BEILAGEN

 

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Vorwort

Einleitung

1500

1600

1700

1800

1900

 

Abbil-
dungen

Wiesen

Weismain

Kloster
Langheim

Kloster
Banz

Staffelstein

 

1900: Am Ende des technischen Jahrhunderts

Mit Optimismus begrüßten die Deutschen in der Silvesternacht des Jahres 1899 das neue Säkulum. Man blickte zurück auf die Lage um 1800, und mit stolzgeschwellter Brust stellte man das neue, 1871 geschaffene Reich mit seinem Großmachtstreben dem verfallenden, politisch schwachen Heiligen Römischen Reich der Zeit um 1800 gegenüber. Auch die technischen Neuerungen des zurückliegenden Jahrhunderts ließ man Revue passieren. In der Frankfurter Zeitung schrieb Wilhelm Bölsche: Das „Geräusch des 19. Jahrhunderts [...] ist kein Schlachtdonner und kein Feldgeschrei [...]. Es ist das Donnern des Eisenbahnzuges, der das Granitmassiv eines Schneegebirges im Tunnel durchquert, das Pfeifen von Dampfmaschinen, das Singen des Windes in Telegraphendrähten und der sonderbare Laut, mit dem der elektrische Straßenbahnwagen, in seiner Leitung hängend, daherkommt.“ [207]

Spricht man von technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, so denkt man zunächst an die dadurch ermöglichte industrielle Revolution, an große, dampfmaschinengetriebene Maschinen, an Fabriken in den Städten. Aus dem heutigen Landkreis Lichtenfels sind da vor allem die ab 1888 entstandenen Burgkunstadter Schuhfabriken zu nennen, aber auch die Großbrauereien in Klosterlangheim und Lichtenfels oder die Porzellanfabriken in Schney und Hausen.

Das Landleben mochte dem flüchtigen Betrachter dagegen statisch erscheinen, so, als habe sich gegenüber den zurückliegenden Jahrhunderten nur wenig geändert. Dieser Eindruck wird noch unterstützt, wenn man etwa liest, wie der französische Agrarwissenschaftler Georges Blondel 1897 bäuerliche Wohnverhältnisse in Uetzing und Umgebung schilderte. Von einer sechsköpfigen Familie in Serkendorf berichtet er: „Sie bewohnen ein kleines Haus, von dem nur ein Teil aus Stein ist, der Rest ist aus Lehm und dient als Stall. Der Teil aus Stein umfasst im Parterre einen Hauptraum, dessen ganze Innenausstattung aus einem Tisch, einer Bank, einem Herd und zwei Schemeln besteht; ein kleiner angrenzender Raum dient als Küche und Abstellraum. Die Wände sind gekalkt und geschmückt mit einer Pendeluhr, einem Kruzifix und zwei groben Stichen religiöser Thematik. Obwohl diese armen Leute lesen können, besteht ihre ganze Bibliothek aus einem Gebetbuch und einem Almanach. Die erste Etage, zu der man über eine baufällige Treppe gelangt, ist nichts als ein Speicher, von dem man jeweils einen Bereich für die Jungen und einen für die Mädchen abgeteilt hat. Als Bett steht lediglich eine Holzkiste zur Verfügung, die mit Stroh ausgelegt ist; über das Stroh hat man ein grobes Stück Tuch ausgebreitet. Gebrauchsgegenstände, Haushaltswäsche und Kleidung sind auf ein Minimum beschränkt. Der aus Lehm gebaute Teil des Hauses dient als Stall für 4 Kühe, 3 Schweine, 3 Gänse und 4 Hühner. Neben dem Wohnhaus sind ein Backhaus aus Stein und eine recht geräumige Scheune angelegt, wo wir zwei in gutem Zustand befindliche Leiterwagen und einen reichlichen Vorrat an sehr gutem Futter antreffen.“ [208] Nur wenig anders wäre ein bäuerliches Anwesen Jahrzehnte, Jahrhunderte zuvor beschrieben worden.

Und dennoch hatten technische Innovationen auch in der Landwirtschaft längst Einzug gehalten. Heute so nostalgisch wirkende Fotografien, auf denen Männer und Frauen auf, vor und neben einer dampfbetriebenen Dreschmaschine posieren, legen davon Zeugnis ab. Zunächst nur auf den großen Gutshöfen eingesetzt – auf dem Gut Kutzenberg war schon 1863 eine Dampfdreschmaschine im Einsatz, 1864 gab es deren zwei [209] –, wurden sie vom ausgehenden 19. Jahrhundert an auch von den größeren Bauern in manchen Dörfern angeschafft; da und dort bildete sich, wie 1883 in Reundorf, eine Dampfdreschgenossenschaft. Noch verbreiteter war als Antriebskraft der Göpel, bei dem ein im Kreis gehendes Rind die Energie für den Antrieb kleinerer Maschinen und Geräte lieferte. In Reundorf wurden zwischen 1881 und 1908 fünf Göpelhallen errichtet [210] .

Sichtbarer war der technische Fortschritt, waren die Wandlungen in den Städten. Namentlich Lichtenfels boomte im späten 19. Jahrhundert geradezu. Hatte die Einwohnerzahl der Stadt 1880 noch bei 2487 gelegen, so war sie 1890 um 21 Prozent auf 2959 gestiegen, und 1900 zählte man schon 3934 Menschen – Tendenz weiter steigend [211] . So breitete sich die Siedlung denn nach allen Richtungen aus und veränderte ihr Gesicht: An der Coburger Straße zwischen Main und äußerem Mühlbach wurden ab 1885 Häuser errichtet, ab 1886 an der „Schanz“, d. h. an der Langheimer Straße [212] . Um dieselbe Zeit setzte eine rege Bautätigkeit längs der Bamberger Straße, jenseits der Leuchse, ein. Ab 1900 legte der Bauunternehmer Hans Diroll (1871–1949) das sogenannte Sandviertel (Obere, Untere und Vordere Sandstraße, Sandplatz) sowie die Schiller- und die Goethestraße an [213] . Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Wohnhäuser rechts des Mains, an der Alten Coburger Straße, gebaut.

Zur Amts- und Villenstraße entwickelte sich die Kronacher Straße, wo seit 1894 auch ein evangelisches Pfarrhaus mit Betsaal stand. Nötig geworden war die Gründung einer eigenständigen evangelischen Gemeinde durch die zahlreichen Beamten und Angestellten in Lichtenfels nötig geworden war, von denen nicht wenige Protestanten waren. Unverzüglich begann man, Geld für einen Kirchenbau zu sammeln. Der Schneyer Pfarrer Otto Schlier veröffentlichte 1898 im Verlag H. O. Schulze, der damit erstmals ein umfangreicheres Buch publizierte [214] , die „Thomasianischen Episteln“ zugunsten des Baufonds [215] . 1902/03 wurde dann die evangelische Kirche nach Plänen des Bamberger Architekten Gustav Häberle (1853–1930) [216] errichtet, der auch die katholische Herz-Jesu-Kirche von Schwürbitz [217] und die Kemenate auf der Altenburg [218] geplant hat.

Zu verdanken hatte Lichtenfels sein Wachstum insbesondere der Bahn. Seit 1845/46 an das Eisenbahnnetz angeschlossen, war die Stadt seit Eröffnung der Werrabahn nach Eisenach 1859 Knotenpunkt. Nach der Eröffnung der Bahnlinie nach Probstzella 1885 lag Lichtenfels dazu an der neuen Magistrale München – Berlin [219] .

Nun erhob sich die heftig umstrittene Frage, welche Station den Ausgangspunkt der Strecke nach Probstzella bilden und damit auch Sitz regionaler Bahnbehörden werden sollte: Kronach, Hochstadt, Lichtenfels oder Bamberg. Die bayerische Regierung entschied sich für Lichtenfels, und der Landtag genehmigte, nachdem der langjährige Bürgermeister (im Amt von 1870 bis 1912) und liberale Landtagsabgeordnete Adam Wenglein (1833–1915) [220] , der Lichtenfelser Apotheker, sich dafür stark gemacht hatte, 1886 und 1890 erhebliche Mittel für den Ausbau der hiesigen Bahnanlagen.

Durch die Verlegung von Bahnbehörden nach Lichtenfels wurden Neubauten erforderlich, die, von 1886 an innerhalb eines Jahrzehnts errichtet, das Stadtbild bis heute prägen: zwei vierstöckige Beamtenwohnhäuser am Bahnhofsplatz und in der anschließenden Zweigstraße, ferner die „Neubäu“, zwei mächtige Ziegelsteinbauten mit 64 Wohnungen, vier Stockwerke hoch und je 35 Meter breit, auf halbem Weg zwischen Lichtenfels und Seubelsdorf gelegen, ein Übernachtungsgebäude beim Bahnhof, die Bahnmeisterei, eine Güterhalle und ein Freiladehof an der Bamberger Straße. An die Stadtseite des Bahnhofs wurde eine Schalterhalle angebaut [221] .

Um die gleiche Zeit verschwand auch ein Stück Kleinstaaterei. Denn die Bahn war entweder ein Unternehmen eines deutschen Bundesstaats oder einer privaten Gesellschaft, nicht des Reichs. So saß denn in Lichtenfels eine bayerische Bahnverwaltung für die Linien nach Bamberg, Hof und Probstzella und parallel dazu die Verwaltung der Werrabahn. Da die private Werrabahngesellschaft sich weigerte, den Güterdienst vom bayerischen Personal versehen zu lassen, gab es in Lichtenfels zwei Bahnverwaltungen, zwei Güterhallen und zwei Lokschuppen, und am Coburger Tor versah ein bayerischer Weichenwärter zusammen mit einem Kollegen von der Werrabahn den Dienst. Erst 1891 gab die Werrabahn den Bahnbetrieb in Lichtenfels ganz in bayerische Hand; ihr Personal wurde von der Königlich Bayerischen Bahn übernommen [222] .

Doch wirkte die Verwaltung der Werrabahn – 1895 verstaatlicht und fortan preußische Staatsbahn, beaufsichtigt von der Eisenbahndirektion Erfurt – auch weiter in die oberfränkischen Verkehrsverhältnisse hinein. So bemühten sich die Handels- und Gewerbekammern von Oberfranken und von Coburg 1897 um eine durchgehenden Schnellzugverbindung Eger – Bayreuth – Lichtenfels – Eisenach – Kassel, die allerdings an der preußischen Verwaltung scheiterte [223] . Leichter tat man sich offenbar mit dem europäischen Ausland. „Im Entwurfe der Sommerfahrordnung 1901 sind zur Herstellung einer weiteren direkten Verbindung zwischen Paris und Karlsbad über Würzburg – Bamberg – Neuenmarkt-Wirsberg – Kirchenlaibach – Eger zwei neue Schnellzüge vorgesehen, welches sämmtliche drei Wagenklassen führen und voraussichtlich mit direkten Wagen ausgerüstet werden.“ [224]

Wer in Coburg oder Ebersdorf eine Fahrkarte kaufen wollte, konnte überdies – mitten im Deutschen Reich – Währungsprobleme bekommen. Denn das Königreich Bayern hatte das Recht, eigene Briefmarken und Banknoten herauszugeben, und – wie 1902 beklagt wurde – wollten „die preußischen Eisenbahnkassen, Fahrkarten-Ausgabestellen und auch sonstige preußische Behörden bayerische Banknoten nicht in Zahlung nehmen“ [225] . Umgekehrt konnte man in Lichtenfels kein Kuvert mit einer Briefmarke frankieren, die man in Weidhausen oder Untersiemau gekauft hatte.

Dem Bahnhof gegenüber bauten bzw. erweiterten die beiden Korbhandelsunternehmen Zinn und Pauson ihre Geschäftshäuser. Denn Lichtenfels wurde bekanntlich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum des Korbhandels mit weltumspannender Bedeutung, beliefert 1886 von ungefähr 13000 Korbmachern „bei einem Umsatz von 3½ Millionen Mark und einem Absatzgebiet, das sich nach allen zivilisirten Ländern der Erde erstreckt“ [226] . Neben den Korbhändlervillen wuchsen in Lichtenfels große Lagerhäuser aus dem Boden. Das beherrschendste war fraglos das 1890/91 an der Langheimer Straße gebaute Lager der AG für Korbwaaren-Industrie, die 1871 der Franzose Amédé Hourdeaux gegründet hatte.

Der badische Unternehmer Emil Spreng gründete 1864 in der Bamberger Straße eine Gasfabrik, die nicht nur die Bürgerhäuser, sondern auch die neuen Straßenlaternen mit Brennmaterial versorgte. 1910 wurde sie von der Stadt übernommen, die hier acht Personen beschäftigte.

Einen Elektrizitätsproduzenten gab es in Lichtenfels um die Jahrhundertwende noch nicht. 1905 bestanden private Elektrizitätswerke in Altenkunstadt, das auch Burgkunstadt versorgte, in Hochstadt, Michelau und Staffelstein [227] ; kurz darauf kam Redwitz hinzu, wo schon 1899 der Mühlbesitzer Georg Wagner (1831–1900) die Einrichtung einer „elektrische[n] Centrale“ ins Auge gefaßt hatte [228] . Das Hochstadter Werk, gegründet von dem Trieber Gutsbesitzer Benecke, produzierte ab Januar 1902 Strom [229] , das von einer Stuttgarter Firma gebaute Elektrizitätswerk Altenkunstadt im Jahr 1904 [230] . Das zunächst durch Wasserkraft, später durch einen 50-PS-Diesel-Motor angetriebene Michelauer E-Werk, das einem Michelauer Korbhändler, einem Wirt, dem Burgkunstadter Schuhfabrikanten Hans Püls und dem Weismaier Brauer Georg Püls gehörte, nahm 1903 seinen Betrieb auf, anfangs mit nur 15 Abnehmern. 1912 stellte dieses Werk schon seinen Betrieb ein; fortan kam der Strom für Michelau vom Überlandwerk Ebensfeld [231] .

1900 erhielt Lichtenfels die lange herbeigesehnte Wasserleitung, die Staffelstein damals bereits zehn Jahre besaß. Die Stadt ließ durch das Münchner Bauunternehmen Philipp Holzmann & Co. eine Hochdruckwasserleitung legen [232] . Sie führte Wasser – damals immer wieder als besonders gutes Trinkwasser beurteilt – von Schwabthal nach Lichtenfels. Auch die Gemeinden Burgberg und Seubelsdorf waren angeschlossen. In den meisten Dörfern des Landkreises dagegen musste das Trink- und das Brauchwasser noch Jahrzehnte später wie von altersher an mehreren öffentlichen Brunnen geholt werden. Selbst in einem großen Ort wie Michelau entstand eine moderne Wasserversorgung erst 1963 [233] .

Im Umkreis des Lichtenfelser Bahngeländes wurde 1897, etwas versteckt hinter einem großen Bahngebäude, das neue Postamt errichtet, im selben Jahr, in dem Lichtenfels an das Telefonnetz angeschlossen wurde. Das Telefon verkörpert eine der wichtigsten, zukunftsweisenden Innovationen: Das Kommunikationsnetz wurde, eingeleitet schon durch den Telegrafen, vollends unabhängig vom Verkehrsnetz; man konnte Nachrichten übermitteln, ohne dass ein Mensch oder ein Gegenstand zum Ziel befördert werden musste.

1893 hatte das Lichtenfelser Bezirksgremium für Handel und Gewerbe auf die Einrichtung einer öffentlichen Sprechstelle gedrungen [234] . Doch erst vier Jahre später ging der Wunsch in Erfüllung. Zuversichtlich berichtete 1897 die Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken: „Nachdem der Stadt Lichtenfels die Errichtung einer öffentlichen Telephonanlage von zuständiger Stelle zugesagt [ist] und sich auch bereits 22 Firmen zum Abonnement verpflichtet haben, so dürfte die Anlage gesichert sein. Da in Lichtenfels ein ausgedehnter und reger Exporthandel betrieben wird, so bitten die Interessenten, dass sie telefonisch mit den Städten: Coburg, Sonneberg, Frankfurt a./M., Mainz, Mannheim, Cöln, Bremen, Hamburg, Berlin, Leipzig und Dresden verbunden werden, denn dadurch würde die Anlage vollen Erfolg und größte Rentabilität erzielen.“ [235]

Doch war aller Anfang schwer. Denn man konnte sich durch das Fräulein vom Amt keineswegs an alle Orte verbinden lassen. 1903/04 klagten die drei großen Lichtenfelser Spediteure Gutmann, Rosenberg, Loewe & Co. und Gondrand, „daß Lichtenfels immer noch nicht zum Sprechverkehr mit den nordthüringischen Industriestädten Ilmenau, Waltershausen, Ohrdruf, Kahla u. A. zugelassen ist. Es schädigt die genannten Speditionsgeschäfte, wenn dieselben sich nicht ebenso wie die Thüringer Konkurrenzfirmen mit den Fabrikanten an den genannten Plätzen über Verfrachtungen telephonisch verständigen können. Selbstverständlich entgehen dadurch auch der bayerischen Staatsbahn eine große Zahl Frachtgüter. Auch der längere Zeit schon angestrebte Sprechverkehr mit Berlin, der für den Lichtenfelser Platz von Wichtigkeit ist und sicher lebhaft benutzt werden würde, wird bei dieser Gelegenheit wiederholt in Erinnerung gebracht und dessen baldige Einrichtung angelegentlichst empfohlen.“ [236]

Den Korbhändler lag überdies an einer Fernsprechverbindung zu ihren Lieferanten in Michelau, Schwürbitz, Redwitz, Buch a. Forst sowie Weidhausen und Sonnefeld: „Der Verkehr mit diesen Orten würde sich von Lichtenfels aus sehr lebhaft gestalten und sich in Folge dessen auch rentabel erweisen.“ [237] Michelau wurde im November 1905 tatsächlich an das Telefonnetz angeschlossen [238] , und die Handels- und Gewerbekammer war mit dem Ergebnis hochzufrieden: „aus dem Verkehr dieser Neuleitung dürfte wohl ersichtlich sein, wie sich die Anlagen nach den übrigen Korbmacher-Ortschaften gestalten und rentieren werden.“ [239]

Technische Probleme kamen hinzu, wie die Handels- und Gewerbekammer 1908 darlegte: „Mehrseitig wird darüber Klage geführt, daß die Gespräche von Lichtenfels nach Frankfurt a. M. und Mannheim zumeist sehr undeutlich gehört werden, während auf weitere Entfernungen, z. B. nach Köln a. Rh. die Verständigung ausgezeichnet ist.“ [240]

Doch die Bahn und die großen Wirtschaftsbetriebe forderten nicht nur technische Verbesserungen und Verwaltungsvereinfachungen – jahrelang kämpfte man, schließlich erfolgreich, um ein Nebenzollamt –, es wurden auch Einrichtungen gewünscht, die man heute zu den „weichen Faktoren“ zählen würde. Das Bezirksgremium für Handel und Gewerbe in Lichtenfels bat ab 1892 „wiederholt um Errichtung einer Realschule in der Stadt Lichtenfels und führt zur Begründung an, daß durch Errichtung einer Eisenbahn-Reparaturwerkstätte in Lichtenfels und durch den Betrieb der Eisenbahnstrecke Lichtenfels – Probstzella viele Beamte und Bedienstete mit Familien nach Lichtenfels versetzt wurden. Diese Beamten und Bediensteten haben den lebhaftesten Wunsch, ihre Kinder in Lichtenfels unterrichten lassen zu können; sie fühlen sich sehr unzufrieden, daß sie ihre Kinder in dem Alter, wo sie noch der elterlichen Pflege und Aufsicht bedürfen mit großen Kosten nach Städten geben müssen, wo Mittelschulen vorhanden sind.“ [241] Aus diesem Wunsch ging schließlich 1904 die vierstufige Realschule hervor, die sich zum heutigen Meranier-Gymnasium entwickelte.

Nicht nur dank der Bahnbehörden, doch auch dank der übrigen Ämter, die ihren Sitz in Lichtenfels hatten, und der Korbhandelsfirmen und Speditionen mit ihren Angestellten gewann Lichtenfels urbane Züge, wie 1914 der evangelische Pfarrer Georg Friedrich (1871–1951) feststellte: „Die Gemeinde, obwohl nur Kleinstadt, trägt den Charakter einer Großstadtgemeinde an sich mit ihren Vorzügen und Fehlern, mit ihren Tugenden und Lastern, wie man ja auch die Stadt Lichtenfels im Scherz, jedoch in gewisser Hinsicht nicht ganz mit Unrecht ,Klein-Paris’ nennt.“ [242]

Für die allgemeine Verwaltung war das Bezirksamt zuständig, um 1900 noch untergebracht im ersten Stock des Lichtenfelser Rathauses. An der Spitze dieser Behörde stand Friedrich Edler von Braun (1863–1923) [243] , der 1898 den aus Gesundheitsgründen pensionierten Bezirksamtmann Franz Messert abgelöst hatte. Braun, in Nürnberg geboren, hatte als Assessor am Bezirksamt Neustadt a. d. Waldnaab, im Kultusministerium und bei der Regierung von Unterfranken Verwaltungserfahrung gesammelt; in Lichtenfels war er erstmals mit der Leitung einer Behörde betraut. Als Dienstwohnung war ihm das heutige Rathaus II zugewiesen.

Braun entwickelte bemerkenswerte Aktivitäten, die Lage der Korbmacher zu verbessern. Namentlich propagierte er die Gründung von Genossenschaften – und zwar mit Erfolg: Auf sein Betreiben hin entstanden 1901 in 16 Dörfern Genossenschaften, deren Aufgabe es war Material und Werkzeuge für ihre Mitglieder einzukaufen [244] .

Der beinahe großstädtische Charakter von Lichtenfels drückte sich auch im ungewöhnlich lebhaften politischen Meinungsstreit aus. „Das politische Parteiwesen muß als ein reges bezeichnet werden“, urteilte 1914 der evangelische Pfarrer Georg Friedrich [245] .

Der Wahlkreis Kronach-Lichtenfels war im Reichstag vertreten durch den „Ökonomen“ Philipp Brückner aus Burgkunstadt, der 1898 als Kandidat des Zentrums gewählt worden war. In Lichtenfels hatten ihn neben dem Pfarrer vor allem Handwerker unterstützt [246] , während für seinen liberalen Gegenkandidaten, den Volksschullehrer Hans Sandner (1863–1946) [247] in Lauenhain bei Ludwigsstadt, die Lichtenfelser Haute-volée eingetreten war: Oberamtsrichter Ludwig Edler von Melzl [248] , Bezirksingenieur Lorenz Demeter [249] – ein Bahnbeamter –, Bezirkstierarzt Carl Ritzer, Bezirksgeometer Joseph Knauer – der Leiter der Messungsbehörde –, Bürgermeister Adam Wenglein und sein Sohn, der Apotheker Stefan Wenglein, die Korbhändler Georges Krauß, Philipp Zinn und Benny Brüll, der Holzhändler und Sägewerksbesitzer Hans Rupp, der Kaufmann Nikolaus Schmidt, der Fabrikant Julius Schlesinger und der Rotgerber und Magistratsrat Andreas Mahr [250] (ab 1912 Bürgermeister). Gleichwohl hatte Sandner in der Stadt nur 36 Prozent der Stimmen erreicht, Brückner dagegen 56 Prozent. Im evangelischen Michelau entfielen auf den Liberalen dagegen 62 Prozent der Stimmen. Im ganzen Wahlkreis hatte Sandner mit 15 Prozent nur an dritter Stelle gelegen, so dass Brückner, der mit 47 Prozent die absolute Mehrheit verfehlt hatte, in einer Stichwahl gegen der SPD-Kandidaten, den Nürnberger Redakteur Johann Scherm (1851–1940) [251] , hatte antreten müssen [252] . Scherm hatte im ersten Wahlgang besonders gut in Schney abgeschnitten, wo er 259 der 285 Wähler auf seiner Seite hatte (91 Prozent). In Marktzeuln erreichte Scherm 58 Prozent, in Michelau 28, in Weismain 26, in Burgkunstadt 16, in ganzen Wahlbezirk 22.

Bei den Landtagswahlen gehörte Lichtenfels aus taktischen Erwägungen der liberalen Regierung heraus zum Wahlkreis Hof, der vier Abgeordnete in den Landtag entsandte, darunter meist einer aus dem Raum Lichtenfels. Nachdem Adam Wenglein 1898 nicht mehr angetreten war, hatten die Wahlmänner den Müllermeister und langjährigen Bürgermeister Leonhard Partheymüller aus Marktzeuln zum Abgeordneten bestimmt, einen Liberalen [253] . Gegen die liberale Kandidaten begünstigende „Wahlkreisgeometrie“ liefen das Zentrum, das über die Mehrheit im Landtag verfügte, und die Sozialdemokraten Sturm. Erst 1905 jedoch stimmte der Prinzregent einer Wahlkreisreform zu, der 1907 das direkte Wahlrecht folgte [254] . Lichtenfels gehörte ab 1905 zum Wahlkreis Staffelstein-Lichtenfels, in dem prompt der politische Katholizismus mit dem Geometer Rudolf Kanzler (1873–1956) den Sieg davontrug.  


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[207]      Zit. nach Salewski, Michael: ,Neujahr 1900‘. Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht. In: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), S. 335–381, hier S. 373.

[208]      Blondel, Georges: Études sur les populations rurales de l’Allemagne et la crise agraire. Paris 1897; Übersetzung bei Ritter, Gerhard A. / Kocka, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen. Bd. 2: 1870–1914. München 21977, S. 216f.

[209]      Lichtenfelser Wochenblatt 1863, S. 319, 360; 9.8.1864.

[210]      Dippold, Günter / Bornschlegel, Andreas: Reundorf. Geschichte und Geschichten zwischen Vierzehnheiligen und Banz. Staffelstein 1999, S. 32.

[211]      Historisches Gemeindeverzeichnis. Die Einwohnerzahlen der Gemeinden Bayerns in der Zeit von 1840 bis 1952. München 1953 (Beiträge zur Statistik Bayerns 192), S. 151.

[212]      StAB, K 224, Nr. 137a/I, II.

[213]      Diroll, Hans: Kulturgeschichtliche Denkmäler in Lichtenfels und näherer Umgebung. O. O. 1936.

[214]      50 Jahre Buchhändler in Lichtenfels. Hermann Oskar Schulze zum 80. Geburtstag dargebracht von seinen Freunden. O. O. [Lichtenfels] 1946.

[215]      Lichtenfelser Tagblatt vom 28.11.1898.

[216]      Über ihn Theuerer, Winfried / Zink, Robert: Hans Erlwein und die Entwicklung Bambergs um die Wende zum 20. Jahrhundert. In;: Stadtentwicklung in Bamberg um 1900. Hans Erlwein (1872–1914). Begleitband zur Ausstellung des Stadtarchivs Bamberg 2. Dezember 1997 bis 7. Februar 1998. Bamberg 1997 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 6), S. 11–140, hier S. 104–107.

[217]      Habermann, Horst: 100 Jahre Herz-Jesu-Kirche Schwürbitz. Schwürbitz 1999, S. 33f., 37.

[218]      Pfeil, Christoph Graf von: Die Altenburg ob Bamberg. Baugeschichte und Funktion. Bamberg 1986, S. 69–83.

[219]      Schäfer, Hans-Peter: Über die Durchgangsstation zum Eisenbahnknoten Lichtenfels. In: Dippold, Günter / Urban, Josef (Hrsg.): Im oberen Maintal, auf dem Jura, an Rodach und Itz. Landschaft, Geschichte, Kultur. Lichtenfels 1990, S. 197–224.

[220]      Über ihn Kürschner, Joseph: Der bayerische Landtag 1893–1899. München 1893, S. 103.

[221]      Sendner-Rieger, Beatrice: Die Bahnhöfe der Ludwig-Süd-Nord-Bahn 1841–1853. Zur Geschichte des bayerischen Staatsbauwesens im 19. Jahrhundert. Karlsruhe 1989, S. 243.

[222]      Lichtenfelser Tagblatt vom 7.1.1891.

[223]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1896. Bayreuth 1897, S. 35f.

[224]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1900. Bayreuth 1901, S. 33.

[225]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1901. Bayreuth 1902, S. 75.

[226]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken für die Jahre 1885 und 1886. Bayreuth 1887, S. 75.

[227]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1904 mit Ergänzungen bis Ende April 1905. Bayreuth 1905, S. 32.

[228]      StAB, K 14, Nr. 4085.

[229]      Lichtenfelser Tagblatt vom 25.1.1902.

[230]      Lichtenfelser Tagblatt vom 28.7.1904.

[231]      Perzel, Herbert: 800 Jahre Michelau in Oberfranken. Vergangenheit und Gegenwart einer fränkischen Gemeinde (Schriften des Deutschen Korbmuseums Michelau 3). Michelau 1994, S. 66f.

[232]      Vgl. Lichtenfelser Tagblatt vom 28.8.1900.

[233]      Perzel (wie Anm. 231), S. 61.

[234]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken für das Jahr 1892. Bayreuth 1893, S. 33.

[235]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1896. Bayreuth 1897, S. 71.

[236]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1903. Bayreuth 1904, S. 92f.

[237]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1904 mit Ergänzungen bis Ende April 1905. Bayreuth 1905, S. 84.

[238]      Perzel (wie Anm. 231), S. 143.

[239]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1905. Bayreuth 1906, S. 92.

[240]      Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer für Oberfranken pro 1907. Bayreuth 1908, S. 109.

[241]      Jahresbericht 1892 (wie Anm. 234), S. 47f.

[242]      Friedrich, Georg: Allgemeine Pfarrbeschreibung. Pfarrbuch oder allgemeine Beschreibung des gesamten Kirchenwesens in der evang. lutherischen Pfarrei Lichtenfels. Lichtenfels 1912/14 (Manuskr. im Archiv der Evan.-luth. Pfarrei Lichtenfels), S. 115.

[243]      Über Braun vgl. Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels. Bd. 1. Schellenberg 1950, S. 748f.; Bd. 19. Neustadt a. d. Aisch 1992, S. 668–671; Schärl, Walter: Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806 bis 1918. Kallmünz 1955 (Münchener Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte, Bd. 1), S. 122f.

[244]      Zu den durch Braun angeregten Genossenschaftsgründungen vgl. Heine, Hans: Die Korbwarenindustrie in Oberfranken. In: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 43 (1910), S. 224–235, 271–313, hier S. 296–299; Benecke, Fred: Die Korbflechtindustrie Oberfrankens. Leipzig 1921 (Wirtschafts- und Verwaltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns 57), S. 120–122.

[245]      Friedrich (wie Anm. 242), S. 125.

[246]      Lichtenfelser Tagblatt vom 14.6.1898.

[247]      Über ihn vgl. Weinlein, Christian: Der Bayerische Volksschullehrer-Verein. Die Geschichte seiner ersten 50 Jahre. 1861–1911. Nürnberg 1911, S. 464; Guthmann, Johannes: Ein Jahrhundert Standes- und Vereinsgeschichte. München 1961 (Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverein. Seine Geschichte. Bd. 2), S. 495f.

[248]      1906 „mit dem Titel und Range eines Oberlandesgerichtsrates“.

[249]      1906 Oberbauinspektor bei der Eisenbahnbetriebsdirektion Augsburg.

[250]      Lichtenfelser Tagblatt vom 13.6.1898.

[251]      Über ihn vgl. Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867–1933. Biographien – Chronik – Wahldokumentation. Ein Handbuch. Düsseldorf 1995 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 7), S. 718.

[252]      Wahlergebnisse in Lichtenfelser Tagblatt vom 17.6.1898.

[253]      Über ihn vgl. Amtliches Handbuch der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages. München 1900, S. 202.

[254]      Möckl, Karl: Die Prinzregentenzeit. Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern. München u. a. 1972, bes. S. 508–510.