Die
Korbflechtergemeinden im Lichtenfelser Raum litten in den ersten Jahren
nach dem Krieg unter einer sehr angespannten Materiallage. Dadurch, dass
zwei Drittel der Lieferanten von höchstwertigen Rohstoffen durch die
politischen Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone, in Polen und
der UdSSR abgeschnitten waren und nicht mehr lieferten, mussten Auswege
gefunden werden. Vorübergehend wurden Holzspan aus Mistelfeld, wo die
Spankorbindustrie ansässig war, Ginster aus der Erlanger Gegend und
Besenreisig verarbeitet, zum Teil auch zelluloidartige Bänder. Auf den
damals verbreiteten Holzgaswagen schafften die Betriebe das Material
herbei. Die ersten Artikel (kleine Körbchen) wurden mit ungeheurem
Erfindungsgeist gefertigt. (18) Schon begannen sich die Lebens- und
Arbeitsverhältnisse in geordneten Bahnen zu bewegen, da warf die Währungsreform
1948 die Entwicklung wieder zurück. Fertigwaren mussten an die
Materialgroßhändler, z.B. die Firmen Schardt, Scherer, Burkhardt, in
Michelau und Lichtenfels, geliefert und gegen Materialien getauscht werden
- noch war die Marktwirtschaft eher ein Tauschhandel.
Innovativ
wurden bald darauf die Weidenruten durch Plastikflechtmaterial ersetzt.
Vorreiter dieser Entwicklung war die Firma A. Scherer in Michelau, die aus
dem nach der Jahrhundertwende allmählich entstandenen Südostbayerischen
Industriedreieck Gendorf Kunststoff-Flechtfäden bezog, das sog. Peddigen.
Die in Farbe und Stärke gleichmäßigen Kunststofffäden ermöglichten
erstmals, dass man dem Aussehen nach makellose Geflechte erzeugen konnte.
Der Werkstoff wurde deshalb zum typischen Flechtmaterial der 50er Jahre
(vgl. auch Abb. 5).
Nachdem
sich so die Materialzulieferung stabilisiert hatte, konnte der nach dem
Krieg auftretende Bedarf an Gebrauchsgegenständen wie z.B. an Wäschekörben
und -truhen, Handkörben und vor allem an Kinderwagen befriedigt werden.
Schon in den 30er Jahren hatte die Fertigung von Korbkinderwagen in Ober-
und Mittelfranken einen wichtigen Stellenwert in der Produktion gehabt. Im
allgemeinen wurden damals jedoch nur Teile geflochten und zur
Komplettierung nach Sachsen und Thüringen geliefert.
Wegen
des Abbruchs der Handelskontakte nach Osten ging die Korbindustrie dazu über,
die Kinderwagen komplett selbst zu fertigen. Soweit es einem Betrieb räumlich
möglich war, wurden alle handwerklichen Arbeiten unter einem Dach
vorgenommen, allerdings in den verschiedenen Abteilungen, so dass sich
eine innerbetriebliche Spezialisierung entwickelte, wie z.B. die
Flechterei, die Galvanisierung, die Schlosserei oder die Drechslerei.
Abb.
8 - 12: Innerbetriebliche Arbeitsteilung am Beispiel der Firma
Heinrich Murmann, Johannisthal
Durch
den vielfältigen Bedarf an Metall- und Plastikteilen entwickelte sich
aber auch eine starke regionale Verknüpfung von Zulieferern und
Lohnarbeitsbetrieben, so dass durch die Kinderwagenherstellung auch
Impulse für andere Industriezweige ausgelöst wurden. (19) In der
Arbeitsweise der Betriebe verlagerte sich die Produktion immer mehr auf
eine mechanisierte Fertigungsweise, wobei die innerbetrieblichen
handwerklichen Arbeitsplätze gegenüber der Heimarbeit zunehmend an
Attraktivität und Bedeutung gewannen (vgl. Abb. 13).
Durch
die steigenden Umsätze und den sich belebenden Export in westeuropäische
Länder konnten die tariflichen Ecklöhne um 6% gesteigert werden. Die
Stundenlöhne schwankten je nach Lohngruppe zwischen DM 1,69 und DM 0,67
ohne Zuschläge. (20) Dagegen nahm in der zweiten Hälfte der 50er Jahre
die Anzahl der Erwerbstätigen in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft
aufgrund der Mechanisierung leicht ab. Durch die sozio-ökonomische
Umstrukturierung und Ausrichtung auf die Marktwirtschaft erfolgte eine
anhaltende Steigerung der Berufstätigen in Handel, Verkehr und
Dienstleistungen. (vgl. Tab. 2)
Tab.
2: Erwerbsstruktur der Bevölkerung von Michelau 1939 und 1950
|
1939 |
1950 |
Landwirtschaft |
173 |
149 |
Produzierendes
Gewerbe |
1.382 |
1.346 |
Handel
und Verkehr |
167 |
243 |
Dienstleistungen |
90 |
179 |
Die
sich verstärkende wirtschaftliche Erholung des Grenzlandes wurde trotz
aller negativen Vorzeichen von einem starken Optimismus geprägt, auch im
Hinblick auf eine mögliche Wiedervereinigung. So bereiste 1957 der
Landesinnungsmeister der westdeutschen Korbmacher, Albert Stammberger,
Stuttgart, den Ostteil Deutschlands und besuchte verschiedene
Genossenschaften der DDR, die mit der Kinderwagenindustrie und
Korbwarenherstellung beschäftigt waren. Dabei kam er nach Zwickau,
Chemnitz, Magdeburg, Halle und Zeitz. Ost‑West‑Kontakte wurden
auch durch internationale Messen, z.B. der Frankfurter oder der Leipziger
Messe, gepflegt. Der optimistische Glaube an die Zukunft und eine mögliche
offene Zusammenarbeit wurden durch die politischen Ereignisse der 50er
Jahre und die hermetische Abschnürung der Kontakte durch den Bau der
Mauer aber entscheidend gedämpft. Der Osthandel erforderte jetzt
Bezugsscheine, die das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft erteilte. Die
Kontingente fielen oft monopolartig an westdeutsche Handelskonzerne, u.a.
die großen Versandhäuser. Sie waren die Hauptabnehmer für die
ostdeutschen Konsumgüter. Der regionale Handel zwischen Oberfranken, Thüringen
und Sachsen erlosch dagegen fast gänzlich. Der Ende der 50er Jahre sich
anbahnende Aufschwung der oberfränkischen Wirtschaft ebbte ab und leitete
in eine Phase der Stagnation über.
Die
Gefahr der einseitigen Wirtschaftsstruktur der Gemeinde Michelau erkannte
der damalige Bürgermeister Johann Nemmert klar. Er hatte das Amt von 1948
bis 1972 inne. Durch seinen Einblick in das Korbmachergewerbe - er
entstammte selbst einer Korbmacherfamilie - stellte er frühzeitig die
notwendigen kommunalpolitischen Weichen, um eine industrielle
Diversifizierung der Gemeinde zu ermöglichen. Dafür war zunächst die
Verbesserung der Infrastruktur notwendig. Dabei zeigte sich, dass die
Gemeinde immer noch durch die unmittelbare Lage am Main geprägt wurde. Im
Jahr 1908 war die erste eiserne Brücke über den Main mit Hilfe von
Landesmitteln errichtet worden. Allerdings wurde sie Ende des Zweiten
Weltkrieges, am 10. April 1945, gesprengt und musste durch eine neue
ersetzt werden. Diese war nur bis 1953 den Anforderungen der Verkehrsströme
gewachsen, da sie lediglich für 2,5 Tonnen Traglast ausgerichtet war.
1961/62 wurden neue Brücken größerer Breite und höherer Tragfähigkeit
über den Main errichtet. (21) Auf diese Weise wurde der Verkehrsanschluss
an das überregionale Straßennetz, hier die B173, die seit 1908/09 als
Gaabsweihertrasse ausgebaut war, überhaupt für den Kraftverkehr der
Gemeinde in gewerblich-industriellem Sinne nutzbar. Auch die regionalen
Belange berücksichtigte man, indem man beispielsweise 1958 eine
hochwasserfreie Verbindungsstraße nach Schwürbitz dem Verkehr übergab.
Gleichermaßen trug man Sorge für die Verbesserung der innerörtlichen
Lage, indem eine Reihe wichtiger Straßen zwischen 1950 und 1953 geteert
wurde. (22)
Ebenso
bedeutsam für die Wirtschaft und die Bevölkerung der Gemeinde war die
Umstellung auf eine geordnete Wasserversorgung und Kanalisation 1959. Bis
dahin waren die industriellen Abwässer über den Mühlbach ungeklärt in
den Main geleitet oder anderweitig in unzulänglichen Gruben deponiert
worden. (23) Als wichtigste infrastrukturelle Maßnahme für die Gemeinde
kann die Errichtung des Hochwasserschutzdammes gelten. 1910 - 13
entstand der erste, 1950 - 53 der zweite, für den Erdmaterial vom
Krappenberg herbeigeschafft wurde; seinetwegen erhielt der Main ein neues
Bett. Durch diesen Damm konnte die erste Industrieansiedlung der Gemeinde
beim Bahnhof entstehen.
Mit
den Investitionen in die Infrastruktur bewies Bürgermeister Nemmert großen
kommunalpolitischen Weitblick, denn sie bildeten die Grundlage für einen
nun rasch einsetzenden Aufschwung im Gewerbe der Gemeinde. Zu Beginn der
50er Jahre entstand eine Reihe neuer Firmen, wie z.B. die Unternehmen
Fritz Bayer (Kinderwagen), Karl Schmolke (Möbel), Matthias Santherr
(Polstermöbel), Rießner-Werke (Polstermöbel, Industriegas), E.
Friedrich KG (Korbwaren, Kleinmöbel), Heinz Weckbrodt (Gardinen), Josef
Hornung (Korbwaren, -möbel), Hermann Nemmert (Lederwaren), Josef Hahn
(Korbwaren) und M. Zellner (Möbelstoffe und Metall). Andere Firmen,
darunter Koinor, Record-Winkelsträter, Andreas Scherer und C. Knorr kamen
hinzu. Zum Teil wurden sie durch die Initiative von Heimatvertriebenen in
Anknüpfung an das traditionelle Korbflechtgewerbe gegründet, andere
schufen völlig neue Industriezweige, wie z.B. Textilherstellung
(Fertigung von Gardinen). So wurden die 50er Jahre mit dem Boom der
Kinderwagen zum Hoffnungsträger der modernen industriellen Entwicklung
der Gemeinde, die ihre industriegeographische und politische Randlage am
Eisernen Vorhang durch die Orientierung nach Westeuropa und den
internationalen Markt auszugleichen versuchte.