Beilagen

Titel

Vorwort

Inhalt

Kap 1

Kap 2

Kap 3

Kap 4

Kap 5

Ausblick

Quellen

3. DER WIEDERAUFBAU

Die Korbflechtergemeinden im Lichtenfelser Raum litten in den ersten Jahren nach dem Krieg unter einer sehr angespannten Materiallage. Dadurch, dass zwei Drittel der Lieferanten von höchstwertigen Rohstoffen durch die politischen Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone, in Polen und der UdSSR abgeschnitten waren und nicht mehr lieferten, mussten Auswege gefunden werden. Vorübergehend wurden Holzspan aus Mistelfeld, wo die Spankorbindustrie ansässig war, Ginster aus der Erlanger Gegend und Besenreisig verarbeitet, zum Teil auch zelluloidartige Bänder. Auf den damals verbreiteten Holzgaswagen schafften die Betriebe das Material herbei. Die ersten Artikel (kleine Körbchen) wurden mit ungeheurem Erfindungsgeist gefertigt. (18) Schon begannen sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in geordneten Bahnen zu bewegen, da warf die Währungsreform 1948 die Entwicklung wieder zurück. Fertigwaren mussten an die Materialgroßhändler, z.B. die Firmen Schardt, Scherer, Burkhardt, in Michelau und Lichtenfels, geliefert und gegen Materialien getauscht werden - noch war die Marktwirtschaft eher ein Tauschhandel.

Innovativ wurden bald darauf die Weidenruten durch Plastikflechtmaterial ersetzt. Vorreiter dieser Entwicklung war die Firma A. Scherer in Michelau, die aus dem nach der Jahrhundertwende allmählich entstandenen Südostbayerischen Industriedreieck Gendorf Kunststoff-Flechtfäden bezog, das sog. Peddigen. Die in Farbe und Stärke gleichmäßigen Kunststofffäden ermöglichten erstmals, dass man dem Aussehen nach makellose Geflechte erzeugen konnte. Der Werkstoff wurde deshalb zum typischen Flechtmaterial der 50er Jahre (vgl. auch Abb. 5).

Nachdem sich so die Materialzulieferung stabilisiert hatte, konnte der nach dem Krieg auftretende Bedarf an Gebrauchsgegenständen wie z.B. an Wäschekörben und -truhen, Handkörben und vor allem an Kinderwagen befriedigt werden. Schon in den 30er Jahren hatte die Fertigung von Korbkinderwagen in Ober- und Mittelfranken einen wichtigen Stellenwert in der Produktion gehabt. Im allgemeinen wurden damals jedoch nur Teile geflochten und zur Komplettierung nach Sachsen und Thüringen geliefert.

Wegen des Abbruchs der Handelskontakte nach Osten ging die Korbindustrie dazu über, die Kinderwagen komplett selbst zu fertigen. Soweit es einem Betrieb räumlich möglich war, wurden alle handwerklichen Arbeiten unter einem Dach vorgenommen, allerdings in den verschiedenen Abteilungen, so dass sich eine innerbetriebliche Spezialisierung entwickelte, wie z.B. die Flechterei, die Galvanisierung, die Schlosserei oder die Drechslerei.

Abb. 8 - 12:  Innerbetriebliche Arbeitsteilung am Beispiel der Firma Heinrich Murmann, Johannisthal

Durch den vielfältigen Bedarf an Metall- und Plastikteilen entwickelte sich aber auch eine starke regionale Verknüpfung von Zulieferern und Lohnarbeitsbetrieben, so dass durch die Kinderwagenherstellung auch Impulse für andere Industriezweige ausgelöst wurden. (19) In der Arbeitsweise der Betriebe verlagerte sich die Produktion immer mehr auf eine mechanisierte Fertigungsweise, wobei die innerbetrieblichen handwerklichen Arbeitsplätze gegenüber der Heimarbeit zunehmend an Attraktivität und Bedeutung gewannen (vgl. Abb. 13).

Durch die steigenden Umsätze und den sich belebenden Export in westeuropäische Länder konnten die tariflichen Ecklöhne um 6% gesteigert werden. Die Stundenlöhne schwankten je nach Lohngruppe zwischen DM 1,69 und DM 0,67 ohne Zuschläge. (20) Dagegen nahm in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die Anzahl der Erwerbstätigen in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft aufgrund der Mechanisierung leicht ab. Durch die sozio-ökonomische Umstrukturierung und Ausrichtung auf die Marktwirtschaft erfolgte eine anhaltende Steigerung der Berufstätigen in Handel, Verkehr und Dienstleistungen. (vgl. Tab. 2)

Tab. 2: Erwerbsstruktur der Bevölkerung von Michelau 1939 und 1950

1939 1950
Landwirtschaft 173 149
Produzierendes Gewerbe 1.382 1.346
Handel und Verkehr 167 243
Dienstleistungen 90 179

Die sich verstärkende wirtschaftliche Erholung des Grenzlandes wurde trotz aller negativen Vorzeichen von einem starken Optimismus geprägt, auch im Hinblick auf eine mögliche Wiedervereinigung. So bereiste 1957 der Landesinnungsmeister der westdeutschen Korbmacher, Albert Stammberger, Stuttgart, den Ostteil Deutschlands und besuchte verschiedene Genossenschaften der DDR, die mit der Kinderwagenindustrie und Korbwarenherstellung beschäftigt waren. Dabei kam er nach Zwickau, Chemnitz, Magdeburg, Halle und Zeitz. Ost‑West‑Kontakte wurden auch durch internationale Messen, z.B. der Frankfurter oder der Leipziger Messe, gepflegt. Der optimistische Glaube an die Zukunft und eine mögliche offene Zusammenarbeit wurden durch die politischen Ereignisse der 50er Jahre und die hermetische Abschnürung der Kontakte durch den Bau der Mauer aber entscheidend gedämpft. Der Osthandel erforderte jetzt Bezugsscheine, die das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft erteilte. Die Kontingente fielen oft monopolartig an westdeutsche Handelskonzerne, u.a. die großen Versandhäuser. Sie waren die Hauptabnehmer für die ostdeutschen Konsumgüter. Der regionale Handel zwischen Oberfranken, Thüringen und Sachsen erlosch dagegen fast gänzlich. Der Ende der 50er Jahre sich anbahnende Aufschwung der oberfränkischen Wirtschaft ebbte ab und leitete in eine Phase der Stagnation über.

Die Gefahr der einseitigen Wirtschaftsstruktur der Gemeinde Michelau erkannte der damalige Bürgermeister Johann Nemmert klar. Er hatte das Amt von 1948 bis 1972 inne. Durch seinen Einblick in das Korbmachergewerbe - er entstammte selbst einer Korbmacherfamilie - stellte er frühzeitig die notwendigen kommunalpolitischen Weichen, um eine industrielle Diversifizierung der Gemeinde zu ermöglichen. Dafür war zunächst die Verbesserung der Infrastruktur notwendig. Dabei zeigte sich, dass die Gemeinde immer noch durch die unmittelbare Lage am Main geprägt wurde. Im Jahr 1908 war die erste eiserne Brücke über den Main mit Hilfe von Landesmitteln errichtet worden. Allerdings wurde sie Ende des Zweiten Weltkrieges, am 10. April 1945, gesprengt und musste durch eine neue ersetzt werden. Diese war nur bis 1953 den Anforderungen der Verkehrsströme gewachsen, da sie lediglich für 2,5 Tonnen Traglast ausgerichtet war. 1961/62 wurden neue Brücken größerer Breite und höherer Tragfähigkeit über den Main errichtet. (21) Auf diese Weise wurde der Verkehrsanschluss an das überregionale Straßennetz, hier die B173, die seit 1908/09 als Gaabsweihertrasse ausgebaut war, überhaupt für den Kraftverkehr der Gemeinde in gewerblich-industriellem Sinne nutzbar. Auch die regionalen Belange berücksichtigte man, indem man beispielsweise 1958 eine hochwasserfreie Verbindungsstraße nach Schwürbitz dem Verkehr übergab. Gleichermaßen trug man Sorge für die Verbesserung der innerörtlichen Lage, indem eine Reihe wichtiger Straßen zwischen 1950 und 1953 geteert wurde. (22)

Ebenso bedeutsam für die Wirtschaft und die Bevölkerung der Gemeinde war die Umstellung auf eine geordnete Wasserversorgung und Kanalisation 1959. Bis dahin waren die industriellen Abwässer über den Mühlbach ungeklärt in den Main geleitet oder anderweitig in unzulänglichen Gruben deponiert worden. (23) Als wichtigste infrastrukturelle Maßnahme für die Gemeinde kann die Errichtung des Hochwasserschutzdammes gelten. 1910 - 13 entstand der erste, 1950 -  53 der zweite, für den Erdmaterial vom Krappenberg herbeigeschafft wurde; seinetwegen erhielt der Main ein neues Bett. Durch diesen Damm konnte die erste Industrieansiedlung der Gemeinde beim Bahnhof entstehen.

Mit den Investitionen in die Infrastruktur bewies Bürgermeister Nemmert großen kommunalpolitischen Weitblick, denn sie bildeten die Grundlage für einen nun rasch einsetzenden Aufschwung im Gewerbe der Gemeinde. Zu Beginn der 50er Jahre entstand eine Reihe neuer Firmen, wie z.B. die Unternehmen Fritz Bayer (Kinderwagen), Karl Schmolke (Möbel), Matthias Santherr (Polstermöbel), Rießner-Werke (Polstermöbel, Industriegas), E. Friedrich KG (Korbwaren, Kleinmöbel), Heinz Weckbrodt (Gardinen), Josef Hornung (Korbwaren, -möbel), Hermann Nemmert (Lederwaren), Josef Hahn (Korbwaren) und M. Zellner (Möbelstoffe und Metall). Andere Firmen, darunter Koinor, Record-Winkelsträter, Andreas Scherer und C. Knorr kamen hinzu. Zum Teil wurden sie durch die Initiative von Heimatvertriebenen in Anknüpfung an das traditionelle Korbflechtgewerbe gegründet, andere schufen völlig neue Industriezweige, wie z.B. Textilherstellung (Fertigung von Gardinen). So wurden die 50er Jahre mit dem Boom der Kinderwagen zum Hoffnungsträger der modernen industriellen Entwicklung der Gemeinde, die ihre industriegeographische und politische Randlage am Eisernen Vorhang durch die Orientierung nach Westeuropa und den internationalen Markt auszugleichen versuchte.

 

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