Um
1910 wurde Michelau im Bayerischen Jahrbuch als Ort mit Postamt dritter
Klasse, Bahnstation vierter Klasse, Gendarmerie und Arzt genannt; im
darauffolgenden Jahr kam eine öffentliche Fernsprech- und
Telegraphenanstalt hinzu. Diese eher ländlich anmutende Beschreibung darf
nicht darüber hinwegtäuschen, dass Michelau im 19. Jh. eine blühende
gewerbliche Entwicklung in der Korbflechterei durchlaufen hatte, die auf
der nachweislich bis ins 18. Jh. zurückreichenden Tradition der
Korbmacher fußte. (1) Die Korbflechterei sollte zum wichtigsten Anknüpfungspunkt
der Wirtschaftsentwicklung nach 1945 werden. Um die Jahrhundertwende wies
Michelau 2326 Einwohner (2) auf, von denen jeder dritte das
Korbmacherhandwerk ausübte. Die Korbflechter fertigten vielfältige
Erzeugnisse unter Mithilfe der Familienangehörigen, einschließlich der
Kinder, im Heimgewerbe. Der Abnehmer oder Fabrikant stellte den
Korbmachern auf deren Kosten das Flechtmaterial zur Verfügung. Diese
arbeiteten gegen Stücklohn zu Hause, auch im Akkord, um ihren Verdienst
zu erhöhen. Oft mussten sich die Frauen um die finanziellen Belange der
Arbeit wie Einkauf und Buchführung kümmern. Die einzelnen Familien kamen
zu einem bescheidenen Wohlstand, und etwa 60 % der Korbmacher konnten vor
dem Ersten Weltkrieg im eigenen, wenn auch kleinen Haus wohnen. (3) Eine
Rentenversicherung hatten allerdings viele bis nach dem Zweiten Weltkrieg
nicht. Die Ernährungslage wurde durch die im Zuerwerb betriebene
Landwirtschafttrotz kleinster Besitzeinheiten gesichert. Noch 1949 hatten
57,2% der Haushalte eine Größe unter 2 Hektar! (4)
Der
Grad, in dem die Industrialisierung des Ortes vorangeschritten war, kann
durch die Zahl der Händler und deren In- und Auslandskontakte ermessen
werden. Für 1908 stellt Dippold (5) fest, dass sich 32 Korbmacherfirmen
im Bezirk etabliert hatten, davon 14 in Lichtenfels, 7 in Michelau, 4 in
Marktzeuln, 4 in Redwitz, 2 in Burgkunstadt und eine in Burkersdorf.
Entscheidend für die Vorrangstellung der Kreisstadt war deren frühzeitige
Anbindung an das überregionale Eisenbahnnetz im Jahr 1846. Michelau
erhielt erst 1874 eine eigene Haltestelle (6), zu einem Zeitpunkt, als der
nationale und internationale Handel mit Korbwaren schon blühte. Bei der
Einrichtung der Personenbeförderung zeigt sich ein Stück Michelauer Schläue,
denn ein ortsansässiger Kaufmann, der Korbhändler Leonhard Otto Gagel,
erwarb zur Auslastung der Züge Fahrkarten in größeren Mengen und vergab
sie als Freifahrscheine; so konnte der Ort die Notwendigkeit einer
Haltestelle überzeugend darlegen.
Für
die Erzeugung von Flechtmaterial - vor dem Ersten Weltkrieg war das in
erster Linie eine große Menge geschälter und ungeschälter Weidenruten -
hatten die östlichen und nördlichen Regierungsbezirke Deutschlands eine
Vorrangstellung eingenommen und deckten ca. 80% des Materialbedarfs.
Der
Import von Weiden aus dem Ausland (vor allem aus den Niederlanden) machte
nur etwa ein Zehntel des gesamten Bedarfs aus (vgl. Abb. 1). Vom Ausland
wurden vornehmlich Rattan und Peddig, z.B. für den Möbelbau, importiert.
Die Einfuhr von Fertigwaren spielte noch eine völlig untergeordnete
Rolle.
Der
Gesamtimport an Stuhlrohr war, gemessen an der inländischen Versorgung
mit Weidenruten, zweitrangig, zeigte aber die weltweiten Kontakte der Händler.
In
der Beschaffung (Korbweiden) waren die Korbfabrikanten in erster Linie auf
norddeutsche Zulieferer angewiesen, mit Ausnahme des Stuhlrohrs. Im Export
von Korbwaren und Möbeln erwiesen sich die USA, die Niederlande und Großbritannien
mit seinen Dominions, die Schweiz und Argentinien als die Hauptabnehmer.
Daneben gab es eine Reihe anderer Staaten unterschiedlicher Bedeutung
(vgl. Tab. 1).
Tab. 1: Export von deutschen Korbwaren (grob und fein) und Korbmöbeln
1913 (in Tonnen)
USA |
844,5 |
Italien |
113,7 |
Niederlande |
655,4 |
Norwegen |
97,3 |
Großbritannien mit Dominions |
644,5 |
Schweden |
90,6 |
Schweiz |
234,5 |
Belgien |
70,9 |
Argentinien |
221,6 |
Rußland |
60,7 |
Dänemark |
176,1 |
Balkan |
60,4 |
Frankreich |
173,8 |
Spanien |
19,9 |
Österreich-Ungarn |
117,8 |
Andere Länder |
391,4 |
Vor
dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Korbwarenfabrikation einen festen
Platz in der gewerblichen Fertigung der Region geschaffen. In Michelau
wurde praktisch in jedem Haus geflochten. Je nach Auftragslage beschäftigten
die kleinen Gewerbebetriebe bis zu etwa zwanzig Aushilfskräfte. Das
Sortiment umfasste gepolsterte und ungepolsterte Sessel, Tische mit und
ohne gemalten Glasplatten, Bänke, Blumenständer, Steh‑ und Hängelampen,
Liegestühle, Strandkörbe, Stubenwagen, Nähkästchen, Hand‑,
Wasch‑ und Reisekörbe, Klopfer, Eierkörbchen, Brotschalen, Puppenmöbel
und viele andere Artikel. Dabei fallen die hohe Qualität und die
Mannigfaltigkeit der Muster und Variationen auf, mit der man dem Geschmack
der Kunden entsprechen wollte.
Massive
Einschnitte in einen kontinuierlichen Produktionsverlauf und weitere
Entfaltung des Außen‑ und Binnenhandels verursachte die
hochkonjunkturelle Kriegswirtschaft der Weltkriege mit ihrem immensen
Bedarf an geflochtenen Geschosskörben. (7) Die Jahre der Weimarer
Republik waren geprägt von Rezession, Geldentwertung,
Weltwirtschaftskrise und zahlreichen Entlassungen. Da viele Auslandsaufträge
zurückgezogen wurden, stieg die Arbeitslosigkeit im Landkreis Lichtenfels
von Mai bis Dezember 1930 von 1000 auf 1500. "Schwerpunkte waren
dabei die Korbmacherorte Schney, Lettenreuth, Michelau, Marktzeuln und
Schwürbitz; sie wurden zu Notstandsgebieten erklärt." (8) "Die
Hausindustrie mit Vollbeschäftigung war zu einem Saisongewerbe
geworden." (9) Infolge der Krise konnten asiatische
Korbwarenhersteller Produkte in technischer und künstlerischer Perfektion
zu äußerst niedrigen Preisen auf den Weltmarkt bringen und dadurch
erhebliche Marktanteile gewinnen. (10)
Durch
die gravierenden sozialen Probleme in Deutschland wurde in den folgenden
Jahren der Einfluss der NSDAP immer deutlicher. Im September 1930 erhielt
sie bei der Reichstagswahl mit 51,7% in Michelau die absolute Mehrheit.
Der Ort war SS-Stützpunkt. (11) In Lichtenfels entstand um 1936 in der
Kreisleitung der NSDAP, Adolf-Hitler-Str. 20 (heute Gesundheitsamt,
Kronacher Straße), die Deutsche Arbeitsfront-Berechnungsstelle für das
Korbmachergewerbe, eingesetzt vom Amt "Schönheit der Arbeit"
zur Vergabe der Aufträge an erstklassige Betriebe. Alle Korbfirmen
mussten eine Kalkulation für ihre Artikel einreichen. Auf diese Weise
wurde dirigistisch in die Wirtschaft eingegriffen.