Beilagen

Titel

Vorwort

Inhalt

Kap 1

Kap 2

Kap 3

Kap 4

Kap 5

Ausblick

Quellen

1. DIE GEMEINDE MICHELAU 1900 - 1939

Um 1910 wurde Michelau im Bayerischen Jahrbuch als Ort mit Postamt dritter Klasse, Bahnstation vierter Klasse, Gendarmerie und Arzt genannt; im darauffolgenden Jahr kam eine öffentliche Fernsprech- und Telegraphenanstalt hinzu. Diese eher ländlich anmutende Beschreibung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Michelau im 19. Jh. eine blühende gewerbliche Entwicklung in der Korbflechterei durchlaufen hatte, die auf der nachweislich bis ins 18. Jh. zurückreichenden Tradition der Korbmacher fußte. (1) Die Korbflechterei sollte zum wichtigsten Anknüpfungspunkt der Wirtschaftsentwicklung nach 1945 werden. Um die Jahrhundertwende wies Michelau 2326 Einwohner (2) auf, von denen jeder dritte das Korbmacherhandwerk ausübte. Die Korbflechter fertigten vielfältige Erzeugnisse unter Mithilfe der Familienangehörigen, einschließlich der Kinder, im Heimgewerbe. Der Abnehmer oder Fabrikant stellte den Korbmachern auf deren Kosten das Flechtmaterial zur Verfügung. Diese arbeiteten gegen Stücklohn zu Hause, auch im Akkord, um ihren Verdienst zu erhöhen. Oft mussten sich die Frauen um die finanziellen Belange der Arbeit wie Einkauf und Buchführung kümmern. Die einzelnen Familien kamen zu einem bescheidenen Wohlstand, und etwa 60 % der Korbmacher konnten vor dem Ersten Weltkrieg im eigenen, wenn auch kleinen Haus wohnen. (3) Eine Rentenversicherung hatten allerdings viele bis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Die Ernährungslage wurde durch die im Zuerwerb betriebene Landwirtschafttrotz kleinster Besitzeinheiten gesichert. Noch 1949 hatten 57,2% der Haushalte eine Größe unter 2 Hektar! (4)

Der Grad, in dem die Industrialisierung des Ortes vorangeschritten war, kann durch die Zahl der Händler und deren In- und Auslandskontakte ermessen werden. Für 1908 stellt Dippold (5) fest, dass sich 32 Korbmacherfirmen im Bezirk etabliert hatten, davon 14 in Lichtenfels, 7 in Michelau, 4 in Marktzeuln, 4 in Redwitz, 2 in Burgkunstadt und eine in Burkersdorf. Entscheidend für die Vorrangstellung der Kreisstadt war deren frühzeitige Anbindung an das überregionale Eisenbahnnetz im Jahr 1846. Michelau erhielt erst 1874 eine eigene Haltestelle (6), zu einem Zeitpunkt, als der nationale und internationale Handel mit Korbwaren schon blühte. Bei der Einrichtung der Personenbeförderung zeigt sich ein Stück Michelauer Schläue, denn ein ortsansässiger Kaufmann, der Korbhändler Leonhard Otto Gagel, erwarb zur Auslastung der Züge Fahrkarten in größeren Mengen und vergab sie als Freifahrscheine; so konnte der Ort die Notwendigkeit einer Haltestelle überzeugend darlegen.

Für die Erzeugung von Flechtmaterial - vor dem Ersten Weltkrieg war das in erster Linie eine große Menge geschälter und ungeschälter Weidenruten - hatten die östlichen und nördlichen Regierungsbezirke Deutschlands eine Vorrangstellung eingenommen und deckten ca. 80% des Materialbedarfs. 

 

 

 

 

 

Der Import von Weiden aus dem Ausland (vor allem aus den Niederlanden) machte nur etwa ein Zehntel des gesamten Bedarfs aus (vgl. Abb. 1). Vom Ausland wurden vornehmlich Rattan und Peddig, z.B. für den Möbelbau, importiert. Die Einfuhr von Fertigwaren spielte noch eine völlig untergeordnete Rolle.

Der Gesamtimport an Stuhlrohr war, gemessen an der inländischen Versorgung mit Weidenruten, zweitrangig, zeigte aber die weltweiten Kontakte der Händler.

In der Beschaffung (Korbweiden) waren die Korbfabrikanten in erster Linie auf norddeutsche Zulieferer angewiesen, mit Ausnahme des Stuhlrohrs. Im Export von Korbwaren und Möbeln erwiesen sich die USA, die Niederlande und Großbritannien mit seinen Dominions, die Schweiz und Argentinien als die Hauptabnehmer. Daneben gab es eine Reihe anderer Staaten unterschiedlicher Bedeutung (vgl. Tab. 1).

 

Tab. 1: Export von deutschen Korbwaren (grob und fein) und Korbmöbeln 1913 (in Tonnen)

USA 844,5 Italien 113,7
Niederlande 655,4 Norwegen 97,3
Großbritannien mit Dominions 644,5 Schweden 90,6
Schweiz 234,5 Belgien 70,9
Argentinien 221,6 Rußland 60,7
Dänemark 176,1 Balkan 60,4
Frankreich 173,8 Spanien 19,9
Österreich-Ungarn 117,8 Andere Länder 391,4

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Korbwarenfabrikation einen festen Platz in der gewerblichen Fertigung der Region geschaffen. In Michelau wurde praktisch in jedem Haus geflochten. Je nach Auftragslage beschäftigten die kleinen Gewerbebetriebe bis zu etwa zwanzig Aushilfskräfte. Das Sortiment umfasste gepolsterte und ungepolsterte Sessel, Tische mit und ohne gemalten Glasplatten, Bänke, Blumenständer, Steh‑ und Hängelampen, Liegestühle, Strandkörbe, Stubenwagen, Nähkästchen, Hand‑, Wasch‑ und Reisekörbe, Klopfer, Eierkörbchen, Brotschalen, Puppenmöbel und viele andere Artikel. Dabei fallen die hohe Qualität und die Mannigfaltigkeit der Muster und Variationen auf, mit der man dem Geschmack der Kunden entsprechen wollte.

Massive Einschnitte in einen kontinuierlichen Produktionsverlauf und weitere Entfaltung des Außen‑ und Binnenhandels verursachte die hochkonjunkturelle Kriegswirtschaft der Weltkriege mit ihrem immensen Bedarf an geflochtenen Geschosskörben. (7) Die Jahre der Weimarer Republik waren geprägt von Rezession, Geldentwertung, Weltwirtschaftskrise und zahlreichen Entlassungen. Da viele Auslandsaufträge zurückgezogen wurden, stieg die Arbeitslosigkeit im Landkreis Lichtenfels von Mai bis Dezember 1930 von 1000 auf 1500. "Schwerpunkte waren dabei die Korbmacherorte Schney, Lettenreuth, Michelau, Marktzeuln und Schwürbitz; sie wurden zu Notstandsgebieten erklärt." (8) "Die Hausindustrie mit Vollbeschäftigung war zu einem Saisongewerbe geworden." (9) Infolge der Krise konnten asiatische Korbwarenhersteller Produkte in technischer und künstlerischer Perfektion zu äußerst niedrigen Preisen auf den Weltmarkt bringen und dadurch erhebliche Marktanteile gewinnen. (10) 

Durch die gravierenden sozialen Probleme in Deutschland wurde in den folgenden Jahren der Einfluss der NSDAP immer deutlicher. Im September 1930 erhielt sie bei der Reichstagswahl mit 51,7% in Michelau die absolute Mehrheit. Der Ort war SS-Stützpunkt. (11) In Lichtenfels entstand um 1936 in der Kreisleitung der NSDAP, Adolf-Hitler-Str. 20 (heute Gesundheitsamt, Kronacher Straße), die Deutsche Arbeitsfront-Berechnungsstelle für das Korbmachergewerbe, eingesetzt vom Amt "Schönheit der Arbeit" zur Vergabe der Aufträge an erstklassige Betriebe. Alle Korbfirmen mussten eine Kalkulation für ihre Artikel einreichen. Auf diese Weise wurde dirigistisch in die Wirtschaft eingegriffen.

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